Von fliehenden Schatten

Von fliehenden Schatten 
 

Zutiefst betroffen vom Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945, erklärte der Medienphilosoph und Schriftsteller Günther Anders rückblickend in einem 1979 geführten Interview, er habe jahrelang nicht auf die Ereignisse reagieren können, weil sein Mund und seine Haut vor deren Ungeheuerlichkeit streikten. Verstanden habe er in dieser Zeit dagegen, dass es nun möglich sei, das gesamte Leben auf der Erde auszulöschen. Der erste Teil seines Hauptwerks Die Antiquiertheit des Menschen, eine ethisch-philosophische Auseinandersetzung mit technischen und naturwissenschaftlichen Errungenschaften - motiviert eben durch den Bau und katastrophalen Einsatz der Nuklearwaffen - , erschien demgemäß erst mit einer Verzögerung von elf Jahren.


In einem Brief, datiert mit 2. August 1939¹, wendete sich Albert Einstein an Präsident Franklin D. Roosevelt. Er und der Mitverfasser Leó Szilárd - unterzeichnet hatte nur Einstein - drückten darin ihre Sorge um die jüngst gelungenen Kernspaltungen an Uran aus. Es sei nun möglich, dass „starke Bomben eines neuen Typs“ gebaut werden können. Wenn auch indirekt, warnte Einstein in diesem Brief vor der absehbaren Gefahr des Baus einer deutschen Atombombe. Dem Präsidenten empfahl er die Einrichtung von Kommissionen und die Zusammenarbeit mit dafür ausgestatteten Laboren. Roosevelt reagierte schon im Oktober mit der Einsetzung des Advisory Committee on Uranium, der Kernzelle des Manhattan-Projekts, an dem schließlich 125.000 Menschen arbeiten sollten.


Seit 1942 waren Wissenschafter in den USA mit der Entwicklung von Atomwaffen befasst. Begründet wurde das US-Programm - einhelliger Tenor historischer Darstellungen - mit der Sorge, das NS-Regime könnte möglicherweise früher als die USA über eine Atombombe verfügen. Und tatsächlich war den Deutschen "Otto Hahn und Fritz Straßmann schon im Dezember 1938 die erste Spaltung eines Urankerns durch Neutronen gelungen. In den USA wurde das zunächst geheim gehaltene Manhattan-Projekt von dem Physiker J. Robert Oppenheimer geleitet und es führte in die erste oberirdische Atombombenzündung am 16. Juli 1945 in der Wüste von New Mexico. Für das Testgelände fand Oppenheimer den Decknamen Trinity Site, die Bombe selbst nannte er demgemäß Trinity (Dreifaltigkeit), Namensgeber damit auch für Trinitit, Sand, der in der Umgebung der Explosion zu grünlichem Glas schmolz. 1962 nach dieser Benennung gefragt, antwortete Oppenheimer, er habe an ein Sonett des englischen Lyrikers John Donne gedacht, in dem es heißt, „zerschlage mein Herz, dreifaltiger Gott“ (Holy Sonnets XIV, „Batter my heart, three-person’d God“).


Über die spätere Ambivalente Haltung Robert Oppenheimers gegenüber dem Manhatten-Projekt, den Tests und den nur wenige Tage darauf erfolgten Abwürfen der Bomben geben spätere Interviews bestenfalls Eindrücke, in denen er sich als feingeistiger, wie vom eigenen Handeln betretener Wissenschafter äußert2. Nach der Trinity-Explosion hätten einige Leute gelacht, andere geweint, die meisten seien still geblieben. Er sei in diesem Moment an eine Stelle in der hinduistischen Bhagavad Gita erinnert gewesen, als der Gott Vishnu den Prinzen anhält, seine Pflicht zu tun. Um ihn zu beeindrucken nimmt er die vielarmige Gestalt an und sagt: „Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.“ „Ich nehme an“, sagt Oppenheimer in diesem Gespräch, „wir alle dachten so, auf die eine oder andere Weise“.


Für den Medienphilosophen Günther Anders fungiert der „Oppenheimer-Fall“3 allegorisch für von Menschen ausgebildete, technologiebasierte Verfahren und Systeme, die menschliches Denken und Handeln zunächst abbilden, langfristig aber lenken und bestim"men. Der sich seiner selbst bewusst werdende homo faber finde sich schließlich in einer selbst geschaffenen, komplexen „Matrize“4 - irreversibles System oder Maschine, von ihm selbst nur mehr marginal zu steuern - betroffen im Gewissenskonflikt einer „prometheischen Scham“5. Konkreter wird Anders in einem Beispiel um automatisiertes Denken respektive einer Art gegenüber dem humanen ausgelagerten Kalküls: 
Um der letzten Gefahr eines Gewissensrufes vorzubeugen, hat man sich Wesen konstruiert, auf die man die Verantwortung abschieben kann, Orakelmaschinen also, elektronische Gewissens-Automaten - denn nichts anderes sind die kybernetischen Computingmaschinen, die nun, Inbegriff der Wissenschaft (damit des Fortschritts, damit des unter allen Umständen Moralischen), schnurrend die Verantwortung übernehmen, während der Mensch danebensteht und, halb dankbar und halb triumphierend, seine Hände in Unschuld wäscht.


Vor solchem Hintergrund, wird es möglich, die Skulpturen des Medienwissenschafters und bildenden Künstlers Henry Jesionka dem Versuch einer Interpretation zu unterziehen. Über mehrere Jahre geführte Recherchen und Überlegungen um Auswirkungen naturwissenschaftlicher Forschung und Entwicklung auf unsere Gesellschaften führten zu Form und inhaltlichen Details plastischer Assoziationen zunächst um die maßgeblichen Charaktere J. Robert Oppenheimers und Stephen Hawkings. 
Eine Fotografie des allenthalben als „Vater der Atombombe“ oder auch „Amerikanischer Prometheus“  bezeichneten  Oppenheimer bildet das Zentrum einer rahmenden, halbkugelförmigen (geodätischen) Konstruktion. Die knapp drei Meter hohe Plastik ist angelegt wie ein Strukturdiagramm, vergleichbar dem Inneren einer Bombe, und zeigt Oppenheimer wie nun für immer verbunden mit Detonationen und Auswirkungen der Bomben. Verweise auf christliche (aber auch vorchristliche und asiatische) Glaubenstraditionen finden sich zunächst in der Konstruktion um die Fotografie als linsenförmige Schnittfläche sich überlappender Kreise mit gleichem Radius. Die sogenannte vesica piscis (Fischblase) wird in der europäisch sakralen Kunst zur Aureole (Mandorla) zu heiligender Figuren, vielfach des Pantokrators, des Weltenherrschers. Die sinnbildliche Positionierung von Oppenheimers Konterfei ist zudem eingebunden in ein Netz von Vignetten, die an Formen der mittelalterlichen Buchmalerei erinnern. Was hier zunächst wie florale Ornamentik erscheinen mag, sind allerdings Malereien nach seriellen Hochgeschwindigkeits-(Rapatronic-)Fotografien der Atom-Explosionen in Belichtungszeiten von Nanosekunden. 
Wenn Jesionka diese Konstellation von Verweisen mit „Oppenheimer als Christus in der Mandorla, geschmückt mit Blumen wie der Buddha“ beschreibt, muss auch buddhistische Ikonografie herangezogen werden. 

Die „Blumen“, in deren Zentrum sich der „Buddha“ befindet, referieren auf dessen Mutter und Darstellungen um die Geburt des Prinzen Siddhartha. Um sich auszuruhen, sei Königin Maya in einem Blumengarten von ihrer Sänfte gestiegen. Als sie sich dort am Zweig eines Baumes festhielt, gebar sie den Prinzen aus ihrer rechten Seite. Nach dieser Tradition symbolisiert Maya auch die Fruchtbarkeit. 
An der unteren Spitze der Mandorla befinden sich Taschenuhren, die alle die Uhrzeit 08:16 zeigen, stehen geblieben während der Explosion der ersten Bombe am 6. August 1945 über Hiroshima. Aus dem Sockel der Plastik ragen miteinander verschmolzene Münzen, wie sie an den Orten der menschgemachten Katastrophe gefunden wurden. „Bekrönt“ ist Trinity von einer Nachbildung des von Harold Edgerton 1957 mit  Stroboskop-Belichtung  aufgenommenen Milchtropfen-Krönchens. Anstelle der im sakralen Kontext eingesetzten Edelmetalle verwendet Jesionka Materialien, die den Anschein von Gold oder Silber erwecken. Die Rapatronic-Malereien sind mit Blei und Kupfer gerahmt.


Die hier besprochenen Plastiken Trinity, Black Holes, T= 0 - +73.191, T= +76.437 
Elégie und Photo Graph sind die vorläufigen künstlerischen Ergebnisse Henry Jesionkas Auseinandersetzung mit gleichermaßen Hybris wie Demut aus Anlass und Folge von wissenschaftlichem Ehrgeiz und menschlicher Kreativität angesichts der Diskrepanz, zum Wohl der Menschheit zu entwickeln, während sich das für den Menschen Gemachte zu allen Zeiten auch gegen ihn richtet. In einer Erläuterung zu diesen Arbeiten kommt Jesionka zu dem Schluss, dass Wissenschaft unsere Religion sei und damit Beweggrund, sich Assoziationen zu religiöser Ikonographie anzunehmen.


Als Schwarzes Loch wird ein Objekt beschrieben, dessen Masse auf ein extrem kleines Volumen konzentriert ist. Damit entsteht in dessen unmittelbarer Umgebung (Ereignishorizont) starke Gravitation, weshalb selbst Licht diesen Einflussbereich nicht durchlaufen oder verlassen kann. Schwarze Löcher im Weltall saugen ihre Umgebung in sich auf und eliminieren auf diese Weise jede Form von Information. In den 1960er Jahren stellte der britische Astrophysiker Stephen Hawking allerdings fest, dass beim Sturz eines Teilchens beziehungsweise dem Verschmelzen Schwarzer Löcher deren Oberfläche nicht abnimmt, kurz, Schwarze Löcher saugen sich selbst nicht auf. Mehr noch - und anmutend wie eine Paradoxie - hat Hawking nach quantenmechanischer Berechnung 1975 nachgewiesen, dass Schwarze Löcher nach außen strahlen. Experimentell ist diese (thermische) Hawking-Strahlung zwar nicht zu verifizieren, bestätigt (theoretisch) allerdings, dass im Gegensatz zur klassischen Physik in der Quanten-Elektrodynamik ein Vakuum kein leeres Nichts sein kann.


Jesionkas Hommage an Stephen Hawking steht ein Wortspiel voran. Nachdem der wohl bekannteste Physiker seiner Zeit gemeinhin "als Ikone des Wissenschaftsbetriebs bezeichnet wird, ist die Assoziation zur Form der orthodoxen Ikone naheliegend. Die aus dem Altgriechischen abgeleitete Bezeichnung im Sinn des „Abbildes“ und die damit verbundene Tradition von Kultund Heilgenbildern wird auf die Bildpolitik des Byzantinischen Reiches seit dem 6. Jahrhundert zurückgeführt.


Im Zentrum der in Mischtechnik ausgeführten Skulptur mit dem Titel Black Holes befindet sich das „Abbild“ Stephen Hawkings in seiner durch die Erkrankung an Amytropher Lateralsklerose bedingten Haltung. Die Darstellung des Körpers ist allerdings auch entlang der abfallenden Diagonale im Bildraum geführt, wie sie in der sakralen Kunst seit dem späten Mittelalter durchwegs in Bildern der Kreuzabnahme Christi zu finden ist. Ikonenmalerei ist eine liturgische Handlung und unterliegt in Komposition und Farbgebung einem Kanon, nach dem auch Materialien wie Gold, Silber, Edelsteine oder Elfenbein bestimmt sind. Jesionka entgegnet nun diesem Regelwerk und verwendet für seine Plastik Blei, Aluminium, Stahl, Eisen und Kupfer. Wieder ist Black Holes wie ein Strukturdiagramm zu lesen, mit etlichen Verweisen auf Hawkings eigene oder mit diesen verbundenen Erkenntnisse zunächst der Astround Teilchenphysik. Der in Kupfer geprägte 
„Nimbus“ (die „Krone“) etwa zeigt das Bild subatomarer Teilchenkollision. Infolge seiner Erkrankung war Stephen Hawking angewiesen auf einen Sprachcomputer, ausgestattet mit intelligentem Programm. Dem entsprechend steht die Gravur eines Hopfield-Netz‘ für künstliche neuronale Netze, Mustererkenner, wie sie, im Grunde nach diesem Prinzip, Anwendung in gegenwärtigen Systemen Künstlicher Intelligenz finden. Bemerkenswert, dass Hawking, der mittels solcher KI kommunizierte, diesbezüglich - und Günther Anders schon früher vertretener Haltung vergleichbar - reagierte. Auf einem Technologie-Kongress (2017, Lissabon) äußerte er seine Skepsis in Hinsicht auf Entwicklung und Anwendungen von KI: Der Erfolg bei der Schaffung einer effektiven KI könnte das größte Ereignis in der Geschichte unserer Zivilisation sein. Oder das Schlimmste. Wir wissen es einfach nicht. Also können wir nicht wissen, ob wir unendlich von der KI unterstützt oder ignoriert, gefüttert oder möglicherweise zerstört werden. Wenn wir nicht lernen, uns auf mögliche Gefahren vorzubereiten und sie zu vermeiden, könnte KI das schlimmste Ereignis in der Geschichte unserer Zivilisation sein.


Der obere Teil des Hopfield Net mündet in eine kupferne Vignette, darin eine Anima Sola (einsame Seele). Das Bild einer Frau im Purgatorium entstammt der katholischen Tradition und veranschaulicht die reinigenden Qualen nach einem sündigen Leben. Weitere, in Kupfer gerägte Vignetten zeigen, wie auch in Trinity, Nachbildungen von Rapatronic-Fotografien (nach Edgertons Verfahren) während der Tests der Bombe. Und schließlich eine Vignette an prominenter Stelle und in Höhe von Hawkings Nimbus. Entsprechend christlicher Ikonografie mag man hier wohl das Lamm Gottes (Agnus Dei) erkennen, das Opfertier als Symbol für die Auferstehung Christi und damit auch korrespondierend mit dem oben genannten Bild von Hawking über die abfallende Diagonale. In Jesionkas Kunstwerk aber handelt es sich um die Nachbildung einer Fotografie des 1996 nach Klonierungsverfahren im schottischen Roslin-Institut geborenen Schafs Dolly. Der Bezug zum Lamm Gottes wird damit allerdings relativiert: Dolly ist ein Produkt gentechnischer Erkenntnisse - und so ein Agnus Hominis.


Anlehnungen an christliche wie vorchristliche Symbolik finden sich auch in Elégie. Das zur Skulptur geformte Klagelied - ähnlich einem gestrandeten, zertrümmerten Holzboot - ist der Unzahl verzweifelter Menschen gewidmet, die nach ihren Versuchen, das Mittelmeer zu überqueren, ums Leben gekommen sind. In Augenhöhe der Betrachter erinnern zwei Ringe aus Sperrdraht an die Dornenkrone Christi. Deren Schnittfläche bildet wieder eine vesica piscis. Damit wird der Blick ins Zentrum des ramponierten „Bootdecks“ gelenkt, auf dem sich, Rücken an Rücken, zwei Hände befinden. Aus Aluminium und Messing gegossen, lassen sie an Blei und Gold denken. Die dem Betrachter zugewandte „bleierne“ Hand ist mit gestanztem Text aus authentischen Berichten von Migranten versehen - wie „Ich bin zersplittertes Holz und Tränen und Meerwasser“ - , während die polierte „goldene“ Hand, die dem Spiegel zugewandt ist und das unausweichliche Spiegelbild des Betrachters „enthält“, Auszüge aus den christlichen Seligpreisungen trägt. In zwei Spiegeln hinter den Händen, die im rechten Winkel zueinander stehen, sehen Betrachter ihr eigenes Gesicht.


T= 0 - +73.191 ist die maßstabgetreue Umsetzung (polierter Aluminiumguss) der Rauchsäule nach dem Start der Raumfähre Challenger am 28. Januar 1986. Nach Erreichen einer Höhe von etwa 15 Kilometern - und 73,191 Sekunden nach dem Start - explodierten die Trägerraketen. Die sieben Astronauten kamen ums Leben. Wrackteile der Challenger wurden später auf einer Fläche von 26.000 Quadratkilometern östlich der Küste Floridas gefunden. 
In Henry Jesionkas dreidimensionaler Interpretation (nach Archivaufnahmen) wird die Rauchsäule zur Timeline, zu einem nüchtern analytischen Instrument des Verlaufs der Ereignisse in der Zeitspanne vom Start bis zum Desaster.


Die korrespondierende Gussplastik (patinierte Bronze) T= +76.437 bezeichnet die etwa drei Sekunden spätere Situation gleich einem Zeitsplitter während der Explosion. Wenn diese beiden Kunstwerke vielleicht als Ausformungen eines kollektiven Gedächtnisses begriffen werden können, evozieren Form und Oberfläche von T= +76.437 auch das Bild eines archäologischen Artefakts wie es im Meer gefunden sein könnte - oder vielleicht in einem Ozean kollektiver Erinnerung?


Eine Schablonenmalerei schließlich zeigt die schwarze Silhouette eines sitzenden, eine Zigarette rauchenden Mannes mit Hut. Wie in einem Zirkelschluss ist mit Photo Graph eine Reihe von Verweisen auf die bisher besprochenen Werke verbunden. Rauchen firmiert inzwischen als zusehends gesellschaftlichen Konventionen entgegnende Handlung, ohnehin seit je als Laster empfunden. Zu Zeiten Robert Oppenheimers dagegen - und bestärkt wahrscheinlich durch mediale Imagebildung in der Öffentlichkeit, durch Hollywood und französisches Kino - taucht die dandyhafte Figur des smarten, rauchenden Wissenschafters auf. Fotografien und Filmaufnahmen zeigen, wie auch in Jesionkas Trinity, Oppenheimer als modisch, mit Hut und Zigarette auftretenden, sich wohl bewusst stilisierenden Zeitgenossen. Ein Komplize also sitzt hier als Schattenriss und Jedermann-Motiv. Abgesehen von dessen Person steht das Wort Oppenheimer in Jesionkas Skulpturen für ein Prinzip kollektiver Verantwortung, Schuld, Mitschuld oder Unschuld. Und Oppenheimer steht auch nur für ein pars pro toto aller denkbaren Kollaborationen, denen man, verkürzt, einen Verursacher voranstellt (könnte etwa nicht Norbert Wiener mit seinen Erkenntnissen um Rückkopplungen, Urform der „lernenden Maschine“, diversen technischen Verfahren Bahn gebrochen haben, nach denen Thermostate funktionieren, ebenso aber KI basierte Mustererkenner, die Musik komponieren, Sprachen übersetzen, Menschen identifizieren oder Waffensysteme steuern?). Harold Edgerton beispielsweise erfand das elektronische Blitzlicht für Fotokameras und infolge das Stroboskop. Ab 1936 war es damit möglich, scharfe Fotos fliegender Kolibris in der Belichtungszeit einer Hunderttausendstel-Sekunde zu machen, die erstmals in National Geographic veröffentlicht wurden. Für Oppenheimers Manhattan Project entwickelte er den Rapatronic-Shutter - für Belichtungszeiten nun von Milliardstel-Sekunden - mit dem Ziel, den expandierenden Feuerball der Trinity-Bombe in seriellen Fotos aufzunehmen.


Photo Graph ist freilich keine Fotografie, sondern es sind die übernommenen Konturen aus einer Fotografie, die durch Malerei wie zum Schatten abstrahiert wurde und sie führt nach Jesionkas Intention wieder zurück an die Augenblicke der atomaren Detonationen über Hiroshima und Nagasaki. Eine andere Form fotografischen Effekts im Sinn der Licht-Zeichnung beschreibt der Medientheoretiker Friedrich Kittler in der bemerkenswerten Anführung von ganz ähnlichen Textstellen bei Paul Virilio und Thomas Pynchon: 
Maschinen auf der Basis rekursiver Funktionen liefern Filmzeitlupen nicht nur des menschlichen Denkens, sondern auch des menschlichen Endes. Nach der Einsicht von Pynchon und Virilio war die Bombe, die am 6. August 1945, zur Hauptverkehrszeit Hiroshima auslöschte, Zusammenfall von Blitzkrieg und Blitzlichtaufnahme. Eine Belichtungszeit von 0,000 000 067 sec […] bildete ungezählte Japaner „als zarten Fettfilm auf den eingeschmolzenen Schutt“ ihrer Stadt ab. 
Der Blitz, der Flash der Bombe, hinterließ eine Art Fotografien als verbrannte Oberflächen an den Orten der Schatten von Gegenständen und Menschen, die nicht fliehen konnten. Aus den Subjekten wurden Objekte, die Menschen wurden zu Schatten, zu Jedermann und zu Niemand. Wer hat mit alldem begonnen? Niemand? Niemand ist ein Name des schlauen Erfinders Odysseus.

Wenzel Mraček

Literatur

(GA) Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 1961 (1956).

(FK) Friedrich Kittler: Grammophon Film Typewriter. Berlin 1986. (Zitat Pynchon aus: Thomas Pynchon: Die Enden der Parabel. 1973/1982, S. 919.)