Die Apokalypsen der „Fleeing Shadows“

Die Apokalypsen der „Fleeing Shadows“

Henry  Jesionka  hat  mit  dieser  Ausstellung  hoch  gepokert.  Monate,  ja  Jahre darauf  vorbereitet,  war  er  in  den  letzten Wochen im KULTUM zum Aufbau in einer Konsequenz, die ihresgleichen sucht, präsent. Lange wusste man als „Zuschauer von außen“ nicht ganz, ob und wie das wird, was er sich skizzenhaft vor Jahren als Konzept ausgedacht hatte. Ob es nicht alles zu viel werden würde, zu komplex und zu einfach zugleich. Aber jetzt: Das hohe Pokern hatte nicht nur seinen Preis – der  Künstler  hat  ihn  auch  gewonnen.  Und mit  ihm  die  Menschen,  die  diese  Ausstellung sehen werden. Sie ist nun – in Kooperation mit dem Festival La Strada – in den Sommerwochen 2023 im KULTUMUSEUM zu sehen. Sie zeugt auch von Jesionkas jahrzehntelanger Erfahrung, mit Bildern, Skulpturen und Räumen umzugehen.


Es  ist  leicht  untertrieben,  dass  Henry  Jesionka  „Fragen  um  Auswirkungen  naturwissenschaftlicher  Forschung  und   Entwicklung auf  unsere  Gesellschaften  umtreiben“.  Er ging  aufs  Ganze,  suchte  nach  den  alten  Fragen von Mythen, vom Werden und Vergehen, von prometheischem Titanentum und der darauffolgenden  Strafe  der  Götter  –  die  ganz unmythisch  und  realpolitisch  lauten:  die  Vernichtung ist nicht nur als Mythos denkbar, sondern auch real möglich, ja sogar wahrscheinlich  –  wenn  wir  nicht  alle  dagegen  auftreten. Jesionka setzt dem Ahnherrn der Möglichkeit unserer  Selbstauslöschung,  dem   Physiker und Vater der Kernspaltung, J. Robert Oppenheimer,  ein  Grabmal,  setzt  ihn,  den  „amerikanischen  Prometheus“,  in  die  Mandorla,  die über  Jahrhunderte  Christus  vorbehalten  war, umgibt ihn sogar mit „Reliquien“ und lässt ihn am  Ende  der  drei  Ausstellungszellen  umfassenden Erzählung als beinahe fluoreszierenden schwarzen  Schatten  an  die  Wand  schlagen, dandyhaft  und  feingeistig  parlierend  mit  Zig"arette, während sein Stuhl, auf dem er eben noch gesessen haben muss, noch steht. Das sind die Berichte vom Energie-Flash, der höher ist als jener der Sonne, der Atombomben also von Hiroshima und Nagasaki vom 6. und 9. August 1945: Sie löschten binnen von Sekunden hunderttausendfaches Leben aus. Was so nicht ins Nichts ausgelöscht wurde, wurde in einer menschheitsgeschichtlich bis dahin nie da gewesenen Energie als Schatten an die Wand geworfen. „Fleeing Shadows“ ist der Titel dieser Ausstellung. Diesen Schatten ist – vor allem jenen in der Gegenwart, deren Flüchtlingsversuche uns täglich erreichen und deren Not die reichen, westlichen Gesellschaften politisch zu zerrütten drohen – im selben Raum eine „Elègie“ gewidmet.


„Trinity“ (Dreifaltigkeit) war der zynische Titel der ersten Atombombenexplosion, die J. Robert Oppenheimer der Detonation am 16. Juli 1945 in der Wüste von New Mexico gegeben hat. Ihm widmet Henry Jesionka ein raumhohes Denkmal, dessen Mandorla-förmiges Umkreisen zudem Zeitkapseln enthalten, die den Prozess der Kernspaltung, durch die Verwendung von Gemälden aus Archivfotos dokumentieren. Der Prometheus, der Titan, der Mensch, die „Krone der Schöpfung“ – fast kitschig positioniert der Künstler eine vergoldete, aus ihren Zacken fast triefende Krone über Oppenheimer.


Für Jesionka ist „Trinity“, diese unvorstellbare Ungeheuerlichkeit, der Schlüssel, sich vielfach der christlichen Ikonografie in dieser geballten Erzählung zu bedienen. „Quis Deus?“ – „Wer ist (wie) Gott?“: Die Frage, die man dem Erzengel Michael als Namen gegeben hat, dekliniert Henry Jesionka an den unfassbaren Erkenntnisfähigkeiten, die gleichzeitig die Möglichkeit der potenziellen Totalauslöschung im Schatten haben, durch. Die „letzten Dinge“ kullern um die Nanosekunden von Fotos einer Kernspaltung, die hier wie Reliquien um den Ahnherrn dieser Kernspaltung im ersten Raum kreisen und schließlich der Auswirkung dieser Energie, die den rauchenden Physiker als schwarzen Schatten in dieser Ausstellung im dritten Raum an die Wand pressen. Sie kullern auch um zwei große Skulpturen im zweiten Raum – jener aus poliertem Aluminiumguss, die die nach der 73,191. Sekunde nach dem Start explodierte Challenger-Trägerrakete aus dem Jahre 1986 zeigt und die weitere – nur etwa 3 Sekunden später – als „T= +76.437“ bezeichnete, die nun ein patinierter und polierter Bronzeguss ist. Die Formen haben sich – freilich als zweidimensionales Bild – als mediales Bild dem kollektiven Gedächtnis eingebrannt. Aus ihm hat der Künstler zwei 3D-Modelle gebaut und die beiden Skulpturen aufwändig gegossen. Die „letzten Dinge“ kullern aber auch um die Erkenntnisse um „schwarze Löcher“ und um deren Wissenstitan Stephen Hawking, jener Ikone von menschlicher Intelligenz, die aufgrund seiner Krankheit auch zur Ikone der Kommunikation mit künstlerischer Intelligenz geworden ist: Einen Gott hat Hawking, der vielleicht so viel sah (bzw. berechnete) von den unendlichen Dimensionen des Kosmos wie kein zweiter, dennoch bestritten. Damit ist auch die nächste Mega-Bedrohung angedeutet, vor der ausgerechnet Hawking gewarnt hat (und die Wenzel Mraček in seinem Text zu dieser Ausstellung ausgegraben hat): „Wenn wir nicht lernen, uns auf mögliche Gefahren vorzubereiten und sie zu vermeiden, könnte KI das schlimmste Ereignis in der Geschichte unserer Zivilisation sein.“ Der 1942 geborene und 2018 verstorbene Hawking hat schon 1975 nachgewiesen, dass „Black Holes“, „Schwarze Löcher“, die alles verschlingen, sich selbst aber nicht aufsaugen, sondern nach außen hin strahlen. Anders gesagt: Das berechnete „Nichts“, das totale Vakuum, kann nicht das absolute Nichts sein. Auch physikalisch nicht. Körperlich nachspürbar ist diese „schwarze Strahlung“, wie gesagt, im letzten Raum. Doch das ist eine andere, als jene, die Hawking gemeint hat. Sie ist die aufgrund menschlicher Intelligenz möglich gemachte Kernspaltung, die so viel Energie freisetzt, wie es die Sonne unentwegt vormacht. Doch sollte man die Sonne nicht auch metaphorisch denken? Als Licht vom Licht etwa, als ewiges Bild, als Trost einer guten Botschaft, als erlösendes Lamm? Henry Jesionka legt derartige Obertöne auch durch seine drei Räume, wenn man denn genau hinsieht. Er geht auch die feine, aber nichtsdestotrotz radikale Balance von Ästhetik und Ethik in seiner Ausstellung durch. Nicht nur, dass er das „Sheep Dolly“ der Ikone für Stephen Hawking beigibt (Könnte es nicht auch ein „Agnus Dei“ sein?), seine „Elègie“ für die Flüchtenden schreit auch nach der Sonne der Gerechtigkeit. Dem gestrandeten, zertrümmerten Holzboot sind zwei sich überschneidende Kreise aus Sperrdraht, die wohl an die Dornenkrone Christi und nicht an die triefende Krone des ersten Raums erinnern, vorgelagert. Deren Schnittfläche bildet erneut eine Mandorla – oder eine „vesica piscis“. Denen, die auf der Überfahrt über das Mittelmeer umgekommen sind, gilt nun dieses ikonografische Symbol für Ewigkeit. Die den Betrachtenden zugewandte Seite zeigt eine Blei-Hand; sie enthält Sätze von Flüchtenden. Ihr angelehnt ist eine Gold-Hand, die wir nicht sehen, sondern nur im Spiegel dahinter, ganz drinnen im zerschellten Boot: In ihm sieht sich aber auch jede/r Betrachtende selbst. Auf der nicht sichtbaren Gold-Hand sind Sätze der jesuanischen Bergpredigt geschrieben.
„Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit…, selig die Hungernden…, selig die Trauernden…“ Et cetera. „Sie werden…!“ (Mt 5)
Für Henry Jesionka ist Kunst untrennbar mit einer Botschaft verbunden, einer, die er unverkennbar mit christlichen Codes versieht. Er schämt sich nicht dafür, im Gegenteil. Als Medienwissenschaftler, Filmemacher und bildender Künstler hat Jesionka im Christentum einen Lebensanker gewonnen, deren Codes er nun in einer Weise umsetzt, die nicht nur die letzten Fragen der alten Theologie aufgreifen, sondern vielmehr jene des Überlebens der Menschheit überhaupt. Fragen zu thematisieren freilich wäre für Henry Jesionka nicht genug. Es ginge ums Erkennen. Und um ein entschiedenes, verantwortliches Handeln, die Apokalypse nicht apokalyptisch im Gott-losen Sinne zu deuten, sondern als letzte Enthüllung.
        
 

Johannes Rauchenberger